Motorradfahrer sind immer schuld

(Lesedauer: 5 min.)

Dass man als Motorradfahrer übersehen oder unterschätzt wird, ist alltäglich. Dass einem aus diesem Grund oftmals die Vorfahrt genommen wird, ist ebenso alltäglich. Als Motorradfahrer rechnet man ja (leider) permanent mit sowas, verzichtet oft genug auf sein Vorfahrtsrecht und wählt sein Tempo so, dass man im Fall der Fälle die Achtlosigkeit anderer Verkehrsteilnehmer hoffentlich ausbügeln kann.

Darum reg ich mich auch gar nicht (mehr) drüber auf, dass mir vor Kurzem ein Autofahrer außerorts aus einer Hofzufahrt heraus dermaßen knapp vor’s Motorrad gefahren ist, wie ich es in über einem Vierteljahrhundert auf zwei und vier Rädern kaum erlebt habe.

Ich reg mich auch nicht (mehr) drüber auf, dass er der Meinung war, nicht er hätte mich übersehen, sondern ich wär da einfach so daher gekommen. Äh ja, klar. Das bin ich. Öffentliche Straße, da darf ich tatsächlich „einfach so daherkommen“, wie jeder andere auch. Ich muss meine Fahrt nirgends vorher anmelden, schon gar nicht bei etwaigen Pkw-Fahrern, die aus Hofzufahrten auf diese Straße einbiegen wollen ohne zu schauen.

Ich reg mich noch nicht mal (mehr) drüber auf, dass er sich keiner Schuld bewusst war und anstatt sich einfach zu entschuldigen „Oh sorry, hab dich übersehen, tut mir leid. Gut dass nix passiert ist.“, noch nicht mal realisiert hatte wie knapp die Geschichte war. Doch, es war knapp, sogar verdammt knapp, und zwar so knapp dass mir die Pumpe gegangen ist wie bisher nur ganz selten im Straßenverkehr. (Und ich bin da sonst nicht leicht zu erschüttern.)

Über was ich mich aber dann doch ein wenig aufregen muss, sind die unbeteiligten Dritten die im Nachhinein dazu gekommen sind und sich in das Wortgefecht eingemischt haben, in der Art dass da bestimmt der Motorradfahrer (also ich) selber schuld war. Nicht derjenige, der aus einer Hofzufahrt auf die Straße rauszieht und dem fließenden Verkehr die Vorfahrt nimmt.

Nein, an der Situation war ein Motorradfahrer beteiligt, also ist der auch automatisch schuld. Weil eben Motorrad. Basta.

Dieses wirklich erschütternde Maß an Voreingenommenheit, das in solch eine absurde Täter-Opfer-Umkehr mündet, erschreckt mich. Weil dieses Fallbeispiel exemplarisch steht für eine allgemeine Entwicklung, die nicht gut sein kann. Es bewegt sich nämlich ungefähr auf gleichem Niveau der Argumentation wie zu sagen:

Wenn eine Frau Minirock trägt, ist sie selbst schuld wenn sie vergewaltigt wird.


In den Augen Unbeteiligter, die nicht dabei waren und darum nicht gesehen haben was eigentlich passiert ist, war der Motorradfahrer schuld, egal wie es tatsächlich war. Weil, so will es das Vorurteil im Kopf, der Biker war doch bestimmt eh viel zu schnell. Dann darf man ihn auch abräumen. Und überhaupt!!!!!1elf! Die sind das personifizierte Böse auf zwei Rädern und geben sich selbst zum Abschuss frei wenn sie Motorradfahren, zetert der wütende Mob aus den Autos heraus, weil die ja sowieso alle immer nur rasen. An den Stammtischen und in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke ist man sich einig: wer auf‘s Motorrad steigt, muss halt damit rechnen getötet zu werden, und ist auch noch selbst schuld wenn es passiert. Das liest und hört man immer wieder.

Dass unter jedem Helm Vater/Mutter, Sohn/Tochter, Bruder/Schwester, Kollege/Kollegin, Ehemann/Ehefrau steckt, jemand aus Fleisch und Blut mit sozialem Umfeld, mit Familie und Freunden die ihn vermissen würden, ein schützenswertes Menschenleben, das blenden solche Leute völlig aus. Für die ist ein Motorradfahrer nur etwas wertlos Abstraktes, das man von der Straße fegen kann. Zeigt sich oft dadurch, dass Motorradfahrer nur abfällig als „Organspender“ bezeichnet werden.

Was ist nur los mit unserer Gesellschaft? Das ist asozial und unmenschlich.

Die Mehrheit der Motorradfahrer hat die Altersgrenze von 40 bereits überschritten, der statistisch durchschnittliche Motorradfahrer ist sogar zwischen 50 und 59 Jahre alt, und somit wohl nicht mehr der Kategorie „junger Wilder“ zuzuordnen, sondern befindet sich in gesetzterem Alter. Die Motorräder sind dank ABS und Traktionskontrolle sicherer geworden, und auch die Fahrer werden besser. Es gibt immer mehr Anbieter von Fahrsicherheitstrainings, und die sind stets gut ausgebucht, es ist in der Saison schwierig noch freie Plätze zu bekommen. Die Motorradfahrer tun mit Hilfe moderner Technik, guter Fahrausbildung und angepasster, routinierter Fahrweise viel für ihre eigene Sicherheit. Mit Erfolg, wie man an gesunkenen Unfallzahlen sieht:

Die Zahl der Motorradunfälle ist seit der Jahrtausendwende bis 2020 um ca. ein Drittel zurückgegangen, die Zahl der tödlich verunglückten Motorradfahrer hat sich in diesem Zeitraum sogar halbiert. Und das obwohl die Anzahl der Motorradfahrer in der gleichen Zeit kontinuierlich und deutlich gestiegen ist. Der Rückgang bei Unfallzahlen und -toten liegt vermutlich kaum daran, dass die Autofahrer in den letzten Jahren so viel umsichtiger und aufmerksamer geworden sind. Ganz im Gegenteil: die glotzen seit über einem Jahrzehnt vermehrt auf’s Smartphone als auf die Straße. „Ablenkung“ hat inzwischen offiziell Alkohol als Unfallursache überholt.

Ich persönlich glaube sogar, bei realistischer Betrachtung hätte schon längst „Ablenkung durch Handy“ den ersten Rang als Hauptunfallursache insgesamt, wenn sich dies nachträglich feststellen ließe. Aber wer gibt denn bei der polizeilichen Unfallaufnahme zu, dass er am Handy gespielt hat als es krachte? Keiner, also steht im Unfallbericht oft einfach „unangepasste Geschwindigkeit“ als Unfallursache, weil das war’s ja letztlich irgendwie immer. Das ist sowas wie die Universalerklärung für jeden Unfall, dessen Ursache sonst nicht ermittelbar ist. Wär man nur 30 gefahren, wär der Unfall nämlich nicht passiert. Oder besser gleich 0 km/h, also das Fahrzeug in der Garage stehen gelassen, dann wär’s auch nicht passiert.

Festzuhalten ist auch, dass kürzlich wieder einmal eine Schwerpunktkontrolle „Zweirad“ an einer beliebten Motorradroute in Bayern aufgezeigt hat: die ganz überwiegende Mehrheit der Motorradfahrer ist legal und vernünftig unterwegs. Trotzdem gießt die Polizei bei ihrer Veröffentlichung in den sozialen Medien Öl ins Feuer, indem sie die paar aufgegriffenen Ausnahmen zur vermeintlichen Regel umformuliert:

„Überhöhte Geschwindigkeit ist nach wie vor die Hauptunfallursache. Hinzu kommt ein Trend, Motorräder durch Um- und Anbauten immer schneller und lauter zu machen.“

(Quelle: Facebook-Posting der Polizei Niederbayern)

Direkt unter dieser reißerischen Einleitung führen die Beamten jedoch die Wahrheit des Kontrolltags aus: Nur 5 von 280 Bikern wurden mit illegal modifizierten Maschinen erwischt (ist das der besagte Trend?), nur 3 von 280 mit überhöhter Geschwindigkeit (diese paar bilden dann also die Hauptunfallursache, oder?). Tagesgewinner beim Speed: ein PKW, kein Motorrad.

Wegen einigen Ausreißern gibt es keinen Grund für eine Sippenhaft und Pauschalverurteilung aller Motorradfahrer. Können wir also bitte einfach realistisch bleiben? Motorradfahrer sind nicht immer schuld. Motorradfahrer sind immer Mensch.

(Randnotiz zum Schluss: da der Pkw-Fahrer in eingangs beschriebener Situation derart uneinsichtig wahr, gar nicht realisiert hatte dass er etwas falsch gemacht und dabei ein Menschenleben gefährdet hat, geschweige sich dafür entschuldigt hätte, habe ich ausnahmsweise entschieden den Vorfall bei der Polizei zur Anzeige zu bringen. Seine Vorfahrtsmissachtung mit Gefährdung kann für ihn nach aktuellem Bußgeldkatalog bis zu 100€ und 1 Punkt in Flensburg bedeuten.)

5 Antworten auf „Motorradfahrer sind immer schuld“

  1. Sorry! Ich bin anderer Meinung.
    Motorräder und ähnliche Geräte wie Roller und Mopeds sind Fahrzeuge, die verboten gehören. Tausende – meist junger – Menschen rasen sich jedes Jahr damit zu Tode. Jeder Motorradfahrer weiß, dass er bei einem Zusammenstoß mit PKW ungeschützt ist. Wer dies weiß, nimmt damit im Falle eines Unfalls automatisch ein Großteil der Schuld auf sich, falls er zu Schaden kommt. Mit dem Motorrad zu fahren ist per se leichtsinnig. Ich bin dafür, dass jeder Motorradfahrer mindesten 50% Mitschuld erhält. Noch lieber wäre mir, wenn diese tödlichen Fahrzeuge endlich verboten würden und endlich von den Straßen verschwänden.

    1. Du darfst natürlich anderer Meinung sein, das steht dir selbstverständlich frei und ist nichts was man mit einem Sorry zur Entschuldigung einleiten muss. Entschuldigen musst du dich vielleicht lediglich dafür, dass diese Meinung womöglich auf falschen Annahmen oder Vorurteilen beruht. Ich darf da hoffentlich mit ein paar Fakten und statistischen Wahrheiten zur Richtigstellung entgegnen.

      Wie im Artikel bereits geschrieben, ist der durchschnittliche Motorradfahrer im statistischen Mittel zwischen 50 und 59 Jahre alt. Daraus darf man vielleicht schließen, dass sich die große Mehrheit aller Motorradfahrer nicht bereits als junge Menschen zu Tode gerast haben. Ganz im Gegenteil, jedes Jahr kommen viele hunderttausend aktive Motorradfahrer lebend durch die Saison, erreichen irgendwann das Rentenalter und sterben früher oder später an etwas anderem als dem motorisierten Zweiradhobby.

      Mopeds und Roller sind kaum zur wilden Raserei geeignet, dafür fahren sie bauartbedingt einfach zu langsam. Bei diesen Gefährten also von „zu Tode rasen“ zu sprechen, ist rhethorisches Stammtisch-Niveau. Solche populistischen Parolen haben in einer sachlichen Diskussion nichts verloren.

      Auf „echten“ Motorrädern passieren die meisten der tödlichen Unfälle nachweislich fremdverschuldet. Will heißen: der Motorradfahrer hat sich in der Mehrheit der Fälle nicht allein zu Tode gerast, sondern er wird viel häufiger von einem anderen Verkehrsteilnehmer, meistens einem PKW, tot gefahren. Der geringere Anteil der Todesfälle ist auf alleinbeteiligte Unfälle zurückzuführen, beim größeren Teil liegt die Schuld nicht beim Motorradfahrer. Motorradfahrer töten nicht, sie werden getötet. Wie auch Radfahrer und Fußgänger, die ebenfalls öfter fremd- als selbstverschuldet zu Tode kommen.

      Im Jahr 2022 waren es in Deutschland 492 tote Motorradfahrer, keine Tausende. Beinah genauso viele Fahrradfahrer, nämlich 474 sind auf deutschen Straßen ums Leben gekommen. Gehören Fahrräder dann gleichermaßen verboten? Und was machen wir diesbezüglich wegen der 368 getöteten Fußgänger hierzulande? Das sind ja auch bloß rund 100 weniger als Radfahrer, also kein so signifikant niedrigeres Risikopotential. Müssten wir Fußgänger und Fahrradfahrer auch pauschal mit einer 50%igen Mitschuld belasten, wenn sie offenbar ein ähnlich hohes Sterberisiko im Verkehrsgeschehen haben?

  2. Ja, ja, ja, das haben wir alles schon so oft gehört. Noch einmal und ganz deutlich: Von jedem Kfz geht eine Betriebsgefahr aus, die sich bei zweirädrigen Kfz im Falle eines Unfalles vermehrt gegen den Benutzer wendet, als z.B. gegen die Insassen eines PKW’s. Das wissen auch alle Motorradfahrenden. Sie begeben sich also freiwillig in Gefahr. Freiwillige Selbstbeschädigung ist oft, aber leider nicht immer, verboten, wie z.B. der Genuss harter Drogen. Motorräder sind auch keine Beförderungsmittel mehr, um zum Arbeitsplatz zu kommen, sondern dienen nur noch der Hochrisikosportart Motorradfahren. Deshalb trete ich dafür ein, dass diese Todesfahrzeuge verboten werden.
    Ich wünsche ihnen nur, dass sie ihren lebensgefährlichen Sport überleben.
    Auf ein höfliches “Sorry“ verzichte ich diesmal.

    1. Nun, in Deutschland sind beinah 20 Millionen Menschen im Besitz einer Fahrerlaubnis für Motorräder. Augenscheinlich fahren nicht alle aktiv und regelmäßig Motorrad. Aber immerhin knappe 5 Millionen Krafträder sind in Deutschland zugelassen, auf 0,01 % davon (ungefähr 500) kam es zu tödlichen Verkehrsunfällen. In Deutschland haben wir gut 40 Millionen Haushalte, in 0,04 % (ca. 16.000) kam es zu tödlichen Haushaltsunfällen. Man könnte die These aufstellen, dass das Todesrisiko der Haushaltsführung viermal so hoch ist wie das des Motorradfahrens.

      In Deutschland leben rund 83 Millionen Menschen, mehr als 0,4% davon (ca. 340.000) starben an Herz-Kreislauferkrankungen. Das Risiko eines Herzkreislauftodes wäre demnach vierzigmal so hoch, wie das bei einem Motorradunfall zu sterben.

      Motorradfahren ist im Vergleich zu vielen anderen Lebensrisiken nicht so viel gefährlicher, wie auch schon der Vergleich zu den getöteten Radfahrern und Fußgängern zeigt, die sich einem ähnlich hohen Risiko aussetzen im Straßenverkehr zu sterben.

      Natürlich hinkt jeder Vergleich immer ein wenig, dessen bin ich mir absolut bewusst. Ich will damit auch nicht behaupten dass Motorradfahren ungefährlich sei. Natürlich ist es riskant, aber eben nicht so über alle Maßen hochriskant wie du es darzustellen versuchst. Vielmehr reiht sich Motorradfahren ein in viele andere allgemeine Lebensrisiken und sticht daraus nicht so besonders hervor. Das Leben ansich ist tödlich, keiner kommt hier lebend raus. Unser Lebensalltag birgt allerlei Gefahren die uns umbringen könnten. Wir können die nicht alle vermeiden oder verbieten, das würde ein arg asketisches und freudloses Leben.

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