Ich war gerade zum Teenager geworden als die Jugoslawienkriege ausgebrochen sind. Die Jugoslawen in meinem Freundeskreis durfte man von nun an nicht mehr Jugoslawen nennen; sie waren plötzlich stolze Serben, Kroaten oder Bosnier, und mochten einander nicht mehr. Das einzige was ich damals verstand: es gab Separatisten in einigen Volksgruppen, die ihre Territorien als souveräne Staaten sehen und nicht mehr zu Jugoslawien gehören wollten. Die Jugoslawische Volksarmee versuchte diese Unabhängigkeitsbestrebungen zu verhindern und darum gab es Krieg.
Die Welt drehte sich weiter.
Während unweit von uns Kriege tobten, lebte man in Deutschland sein Leben. Auch als die NATO mehrere tausend Luftangriffe über Bosnien-Herzegowina flog, nur halb so weit von uns entfernt wie das was sich heute, 30 Jahre später an der ukrainisch-russischen Grenze im Donbass abspielt.
Damals war man nur stummer Zuseher wenn einmal am Tag in den Abendnachrichten Meldungen über den Krieg kamen. Heute „zeigt man Flagge“ nach cross-medialer Dauerberichterstattung auf allen Kanälen und ist lautstarker Kundgeber der eigenen Haltung. Und sei die noch so sehr aus Ahnungslosigkeit gewachsen.
Wie damals Anfang der 1990er als Teenager, verstehe ich auch heute Anfang der 2020er als Erwachsener eigentlich nichts davon was wirklich dort vor sich geht. Und schon gar nicht vermag ich zu beurteilen wer da recht hat und wer nicht. Es ist vielschichtig, und für mich nicht zu durchschauen.
Man kann sich in sozialen Netzwerken leicht öffentlichkeitswirksam auf die seiner Meinung nach richtige Seite schlagen und seine Solidarität vom Sofa aus mit einer kleinen Staatsflagge im Profilbild kundtun.
Ich werde jedoch den Teufel tun, mich mit irgendeinem der involvierten Staaten politisch solidarisch zu zeigen und unter deren Flagge zu firmieren. Ich glaube nicht, dass die NATO besser ist als Russland (und umgekehrt), und ich hab nicht den blassesten Schimmer wie die Ukraine tatsächlich mit den Donbass-Separatisten umgegangen ist in diesem seit 2014 herrschenden bewaffneten Konflikt. Der blieb in unseren Medien ja weitgehend unsichtbar.
Im Krieg gibt es nur Verlierer.
Wenn ich mich mit irgendjemandem solidarisch verbunden fühle, dann mit Menschen die zu Kriegsopfern werden. Ob dies nun Menschen in Russland, in der Ukraine oder in Donezk und Luhansk sind, das spielt für mich keine Rolle. So wie es mir vor 30 Jahren egal war, ob meine ehemals jugoslawischen Freunde nun Serben, Kroaten oder sonstwas waren. Damals hab ich mich auf keine Seite geschlagen, ich tue das auch heute nicht.
Ich verurteile generell kriegerische Handlungen, und mir ist dabei egal von wem sie ausgehen oder gegen wen sie gerichtet sind. Mensch ist Mensch, und kein Mensch sollte Krieg am eigenen Leib erleben müssen.
Und ob nun der Ukraine-Russland-Konflikt aus geopolitischer Sicht tatsächlich mit den Jugoslawienkriegen vergleichbar ist, ist für mich persönlich hierbei irrelevant. Es geht mir um die Parallelen meiner subjektiven Wahrnehmung des Geschehens als Mensch.
Ich sehe nur, dass es einen Konflikt darüber gibt, ob die pro-russischen Donbass-Separatisten in Donezk und Luhansk denn nun zur Ukraine, zu Russland, oder zu keinem von beidem gehören und souverän sind. Die Ukraine stellt sich gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen und wird dabei vom Westen unterstützt. Russland hat die Unabhängigkeit dieser selbst ernannten Volksrepubliken anerkannt, Putin stellt sich auf Separatisten-Seite und will sie aus ukrainischer Herrschaft „befreien“.
Nun bin ich nicht so naiv zu glauben, Putin täte das aus Menschenliebe und weil er ein glühender Verfechter der Unabhängigkeit ehemaliger Sowjet-Gebiete wäre. Er nutzt die „Befreiung“ dieser nach Unabhängigkeit strebenden Separatisten im Grenzgebiet zu Russland als Deckmantel seiner Abwehr einer fortschreitenden NATO-Osterweiterung.
Putin hat natürlich Russlands Interessen im Sinn.
Würde Russland dem Donbass zur Unabhängigkeit verhelfen, wäre der nicht automatisch NATO-Zone, sollte die Ukraine NATO-Mitglied werden. Putin könnte sich unter dem Vorwand eines Befreiungsschlags dieses kleine Stück Pufferzone zum westlichen Militärbündnis erhalten.
Ganz unabhängig davon ob man Putins Motivation für gerechtfertigt hält, so kann man seinen Standpunkt zumindest in Teilen nachvollziehen. Beweggründe zu erkennen und zu verstehen, ist nicht gleichbedeutend mit deren Gutheißung. Denn trotz aller Nachvollziehbarkeit kann das meines Erachtens niemals kriegerische Handlungen legitimieren. Diese sind nach meinem Empfinden als Angriffskrieg ebenso zu verurteilen wie bspw. der Einmarsch der USA in den Irak oder Kriegshandlungen der Türkei in Nordsyrien.